Die beste Rede 2011 – Jean Ziegler „Der Aufstand des Gewissens“
Das Seminar für Allgemeine Rhetorik hat am 20. Dezember 2011 Jean Zieglers Rede „Der Aufstand des Gewissens“ zur besten Rede 2011 gekürt. Zwei Aspekte haben hierbei die Expertenjury der Universität Tübingen besonders überzeugt: Die rhetorisch-kluge stilistische wie inhaltliche Textkonstruktion sowie die besondere Form der Darbietung.
Ziegler wurde für eine rednerische Leistung gekürt, die – traditionalistisch beurteilt – nie erbracht wurde. Der Soziologe und Globalisierungskritiker sollte am 20. Juli 2011 die Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele halten – wäre er nicht wieder vom Veranstalter ausgeladen worden. Die offizielle Begründung: Er habe dem lybischen Diktator Gaddafi zu nahe gestanden. Der verhinderte Redner selbst mutmaßt, dass schweizerische Konzerne und Sponsoren Druck auf die Veranstalter ausgeübt hatten. Doch der Autor hat sein Manuskript auf vielfachen Wunsch hin schriftlich niedergelegt und seine Rede auf Youtube eingestellt.
Die im doppelten Wortsinne ungehaltene Rede unterläuft, wie viele bedeutende rhetorische Leistungen, bewusst und gekonnt Konventionen. Statt einer gediegenen und wärmenden Wohlfühlrede, in der mit halbherzig-mahnenden Allgemeinplätzen bestenfalls das intellektuelle Selbstbild des Publikums gestreichelt wird, setzte Ziegler mit seinem Redekonzept auf provokative Konfrontation. An die Stelle einer Festrede tritt bei Ziegler ein dramatischer Appell an das Selbstbild des handverlesenen Auditoriums. Provokativ und ohne große Umschweife formuliert er von der ersten Sekunde an seine Botschaften. Bereits in der Redeeröffnung schreibt der ehemalige UN-Sonderbotschafter für Ernährung ohne falsche Festlichkeit:
„Sehr verehrte Damen und Herren, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37.000 Menschen verhungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe World-Food-Report der FAO, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte. Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“
Ziegler tritt mit rhetorischer Überzeugung und pathos für seine Sache ein. Dies äußert er jedoch nicht, wie so oft, in emotionaler Gestik, Stimmführung oder Wortwahl. Vielmehr hat Ziegler den Mut, gegen alle Angemessenheitsregeln und Erwartungen, aus einer Festrede eine indirekte Gerichtsrede zu machen und so die hochkarätigen Gäste von der ersten Reihe direkt auf die Anklagebank zu heben. Die Rede selbst sei sehr sachlich und schlicht, so Anne Ulrich, Sprecherin der Tübinger Jury. Sie sei für einen solchen Rahmen klar zu provokativ gewesen, aber hätte das Publikum sicher nicht beledigt, so die Rhetorikerin weiter. Jean Ziegler konstruiert Schlichtheit, Sachlichkeit und Klarheit in Stil und Botschaft im bewusst-strategischen Gegensatz zur emotionalen Kraft seines Inhalts. Gerade diese gegensätzliche Spannung und der bewusste Bruch mit den Konventionen macht die emotionale Tragkraft der Rede aus. Ziegler habe die Wahrheit auch vor einem solchen Publikum unverblümt im Munde geführt, das habe die Jury als besonders mutig empfunden. „Das vermisst man bei Politikern oft“, sagt Ulrich. „Die Rede war einzigartig in ihrer Qualität.“
Eine zweite Besonderheit, die von den Rhetorik-Experten herausgehoben wurde, war die Form der rednerischen Darbietung. Rhetoriker sprechen von sogenannten Widerständen, das heißt Schwierigkeiten, welche der Redner überwinden muss, um mit möglichst hoher Wirkung sein Redeziel (telos) zu erreichen. Widerstände ergeben sich unter anderem über die Art der Textvermittlung, im Fachterminus „medialer Widerstand“ genannt. Noch bis heute schlägt ein rhetorisch ausgebildeter, leibhaftiger Redner mit seinem Vortrag jeden schriftlich verteilten Text hinsichtlich seiner Wirkung. Lange bestand jedoch ein großer Nachteil der leibhaftigen Darbietung darin, dass die Wirkkraft einer jeden noch so guten Rede abhängig war von der Größe des Publikums, vor dem gesprochen wurde. Wenig Zuhörer, wenig Wirkung. Erst das Radio, später das Fernsehen konnten diese Reichweitenproblematik sukzessiv auflösen. Allerdings war der Zugang zu diesen Medienkanälen sehr restringiert und nur für einen sehr beschränkten Kreis von Rednern nutzbar. Durch das Web 2.0, Facebook, Youtube & Co. verändert sich jedoch nicht nur die kommuniktive Landschaft im Allgemeinen, sondern ebenfalls die rhetorische im Speziellen. Heute kann jeder seinen Standpunkt vor einem Millionenpublikum überzeugend vertreten. Technische oder soziologische Widerstände wie die Verfügbarkeit eines TV-Studios oder die Zugehörigkeit und Gunst einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse, welche einem erst den Zugang zu bestimmten Bühnen gewährt, sind nicht länger entscheidend. Stattdessen kommt es wieder mehr auf rhetorische Fähigkeiten und Gütekriterien an.
Genau diese Entwicklung zeigt sich im Beispiel Jean Zieglers. Ihm wurde das Rederecht und die klassische Bühne entzogen. Doch aufgrund der neuen medialen Entwicklung spielte dies für die Wirkung seiner rhetorisch gut gemachten Rede keine größere Rolle mehr. Im Gegenteil: erst die Verweigerung dem Rhetor in Salzburg sein Publikum zuzugestehen, hat Ziegler – getrieben von einer tiefen Überzeugung für seine Sache – einen Medienkanal wählen lassen, den er vielleicht ohne diesen Vorfall niemals genutzt hätte. Eine Entscheidung, welche die inhärente Wirkungskraft erst um ihr Vielfaches potenzierte.
Die Rhetoriker kennen den Begriff kairos, den günstigen Zeitpunkt, der für jedes rhetorische Agieren abzupassen ist und mit welchem eine sehr gute Rede erst zur besten Rede des Jahres 2011 werden kann. Vielleicht war es in Zieglers Fall beides: kairos und ein Quäntchen Glück – so dass erst aus der Verweigerung des Rechtes auf freie Rede Worte werden konnten, die weit über Salzburg hinaus Gehör gefunden haben.
Das Redemanuskript Zieglers finden Sie auf den Seiten der ARD.
Die Urteilsbegründung in schriftlicher Form können Sie auf den Seiten des Seminars für Allgemeine Rhetorik nachlesen.
Hörfunkinterviews zur Ehrung von Prof. Joachim Knape, Professor für Rhetorik in Tübingen, sowie Anne Ulrich, Sprecherin der Jury, finden Sie hier: Knape, Ulrich.