Das Seminar für Allgemeine Rhetorik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen vergibt seit 1998 den Preis „Rede des Jahres“ für herausragende rhetorische Redeleistungen, die im besonderen Maße die kulturelle, politische oder soziologische Diskussion beeinflusst haben.
Die Auszeichnung „Rede des Jahres 2010“ ging dieses Jahr an die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Margot Käßmann für ihre Predigt im Neujahresgottesdienst der Dresdner Frauenkirche am 01. Januar 2010.

Die Auszeichnung wurde durch das Komitee wie folgt begründet:

„Käßmann macht die Jahreslosung „Euer Herz erschrecke nicht“ zum Ausgangspunkt einer ungewöhnlich realistischen, erfrischend lebensnahen und undoktrinären Neujahrspredigt, die den Blick auf einen Kristallisationspunkt menschlicher Existenz lenkt: das tiefe Erschrecken angesichts bedrohlicher Lebensumstände und existenzieller Ängste. Dabei versteht sie es, ihren Zuhörern mit klarem Blick auf deren vielfältige Lebenslagen Mut zuzusprechen. Ihre Botschaft: Nichts ist gut in der Welt, aber der Mensch muss trotzdem nicht erschrecken. In diesem Spannungsfeld zwischen Illusionslosigkeit und der Forderung nach unbeirrbarer Zuversicht entwickelt sie ihre Rede. Von der Klimapolitik über den Spitzensport und die Kinderarmut bis hin zum Afghanistan-Krieg greift Käßmann treffsicher Themen von gesellschaftspolitischer Brisanz auf.

Zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg in Afghanistan offiziell nicht als Krieg bezeichnet wurde und Infragestellungen des Kriegseinsatzes äußerst umstritten waren, hatte Käßmann den Mut, Friedensüberlegungen anzumahnen und politische Lösungen zu fordern. Ihr viel zitierter Satz Nichts ist gut in Afghanistan hat in der Politik massive Kritik ausgelöst, letztlich aber entscheidend dazu beigetragen, eine weitreichende Debatte über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr anzustoßen, die inzwischen auch zu politischen Konsequenzen geführt hat. Es ist Margot Käßmanns Verdienst, dass sie diese Gelegenheit in ihrer Neujahrspredigt nicht verstreichen ließ, sondern wahrhaft unerschrocken beim Schopfe ergriff und damit den friedensethischen Grundsätzen der Kirche im besten rhetorischen Sinne zu gesellschaftlicher Geltung verhalf.

Die Rede zeichnet sich durch einen klaren und verständlichen Stil aus, besticht durch eine anschauliche Sprache mit für jedermann anschlussfähigen und dennoch persönlichen Beispielen und einen so deutlichen wie versöhnlichen Ton. Damit entspricht sie allen rhetorischen Anforderungen zur Elaborierung einer Rede, wurde bei einem herausragenden und dann als spektakulär wahrgenommenen Ereignismoment gehalten und zeigte enorme Wirkung.“

Das Video zur Rede finden Sie in der ZDF Mediathek.

Die Predigt als pdf-Datei: Rede des Jahres 2010 – Käßmann_Predigt zum Neujahresgottesdienst 2010