Christian Wulff hat seine erste Weihnachtsansprache an die Menschen in der Bundesrepublik gerichtet. AKZENT Consulting macht den Rhetorik-Check.

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1. Körpersprache & Stimmführung

Im Vergleich zu seinem Vorgänger Horst Köhler verzichtet Christian Wulff nicht nur ganz gezielt darauf sich hinter einem dunklen, schweren Schreibtisch zu verbarrikadieren, sondern ebenso auf die wie bei Großmuttern wirkende rote Kerze im Tannenkranz sowie die ominöse, geschlossene Arbeitsmappe. Zum Glück.

Das Stehen im Raum wirkt nahbarer, frischer und gemeinschaftlicher – ein Image, das Wulff nicht nur an dieser Stelle merklich versucht mit aller Macht aufzubauen -, da nichts zwischen ihm und seinem Publikum steht. Wulff steht mittig zum Auditorium, leicht hüftbreit und somit fest, um die von einem Bundespräsidenten geforderte Ruhe auf seine gesamte Körpersprache zu übertragen. Dies verhindert in Verbindung mit den klar nach vorn ausgerichteten Zehenspitzen, dass er auch nur für einen Augenblick mit der Knochenseite zum TV-Zuschauer stehen könnte. Hierdurch wirkt Wulff stets präsent und direkt.

Der Blickkontakt ist nahezu immer direkt in die Kamera  und somit an die Zuschauer am Bildschirm gerichtet. Die Brille lässt Wulff belesener und intellektueller wirken. Er trägt ganz bewusst randlos, um dem Gesicht nicht die Offenheit zu nehmen. Die klar strategische Entscheidung (siehe 3. Setting), dass das erste Mal in der Geschichte nicht nur Kameras sondern auch Menschen den Bundespräsidenten umringen, bringt neben den antizipierten Wirkungsvorteilen jedoch auch Nachteile mit sich. Der Rhetoriker Christian Wulff ist sich bewusst, dass er sich mit dem direkten Blick in die Linse für den Kontakt mit dem Großteil der Zuhörer entscheidet. Dies zum Preis, dass er seine eigens eingeladenen „Gäste“ damit noch deutlicher zu Statisten degradiert. Dass er sich diesem Dilemma bewusst und es ihm wohl auch nicht sonderlich genehm ist, sieht man besonders in der Spanne 1:45 – 2:00. Wulff versucht die Situation zu lösen indem er ein paar flüchtige Blicke nach links und rechts wagt. Diese sind jedoch so kurz und unspezifisch, dass sie mehr verlegen als bewusst wertschätzend wirken. Schlussendlich muss er eine Entscheidung treffen. Diese fällt ganz klar und strategisch richtig zu Gunsten der TV-Zuschauer.

Wulffs Mimik zeigt zu wenig Varianz. Sie wirkt deshalb an wichtigen Stellen leider unbeteiligt, politisch distanziert und konterkariert somit genau das Image eines „Mannes aus dem Volk, für das Volk“, welches Wulff allzu gern aufbauen möchte. Ein Lächeln bei der Begrüßung „Fröhliche Weihnachten, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ hätte  der Wirkung eines seriösen Staatsmannes keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Denken Sie an Obama.  Durch seine unbelebte Mine verpufft einer der wichtigsten Teile der Rede, die Begrüßung. Ansätze einer inhaltskongruenten Mimik blitzen sehr schwach zwischen 3:28 -3:40 auf, jedoch wird die Glaubhaftigkeit seiner Aussage „(…) beglückende Erfahrung (…)“ gnadenlos von den monotonen Gesichtszügen niedergewalzt. Zumindest am Ende wird Wulff mit einer minimalistisch freundlichen Mimik für wenige Sekunden ermunternder, auch wenn dies beim indirekten Appell „Eltern sollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen“ kontraproduktiv wirkt und sich gerade bei den Wünschen zum Jahr 2011 erneut ganz verliert.

Die Gestik Wulffs wirkt sehr abgeklärt, ruhig und professionell. Er hat die Hände stets in der richtigen Höhe und gestikuliert aus einer guten Ausgangstellung heraus sehr variant und inhaltsadäquat. Abgesehen von den 4 Sekunden zwischen 1:25 -1:29 (Schulterklopfen, Hand reichen) führt die Gestik sehr gut, rollengerecht und authentisch durch die Ansprache. Doch gerade die eben erwähnte Stelle – und ist sie auch noch zu kurz – hinterlässt beim wachen Zuschauer einen etwas schalen Geschmack des Einstudierten bzw. der Technik. Dies geht, bestenfalls im Unterbewusstsein seines Publikums, zu Lasten seiner Imagekonstruktion.

Wulff führt seine Stimme ruhig und bestimmt. Die Geschwindigkeit hat er klar auf die Heterogenität der Zuschauer abgestimmt (Alter, Sprachniveau, Migrationshintergründe etc.). Die gezielten Pausen erleichtern dem Zuhörer die Informationsverarbeitung. Doch auch hier gilt das Gleiche, wie das bereits im Absatz zur Mimik Beschriebene. Gerade weil Christian Wulff sehr ruhig steht und gestikuliert, muss er aufpassen aus der Ruhe und Seriosität keine farblose Adynamik werden zu lassen. Dies hätte man mit einer akzentuierteren Modulation verhindern können. Da sich jedoch Gestik und v.a. Mimik direkt auf die Stimme übertragen verwundert es nicht, dass diese in weiten Teilen leblos bleibt.

Dass Wulff jedoch alles andere als unaufgeregt war, merkt man ab der Mitte, v.a. in seiner Körpersprache. Der Drang sich aus der Drucksituation als Redner vor einem Millionenpublikum zu lösen entlädt sich zum Ende hin in immer häufiger werdenden, kleinen Standwechseln (3:08, 3:20, 3:27, 3:44, 3:53, 4:37, 4:40, 4:50, 5:00). Allerdings dürfte dies wohl nur einen allzu überkritischen Beobachter stören. Idealerweise hätte Wulff einen sehr kurzen Positionswechsel in der Mitte seiner Rede durchgeführt und so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: sein Nervositätspotential durch diese Bewegung etwas gesenkt und gleichzeitig noch einmal die Aufmerksamkeitsspanne angehoben.

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2. Textrhetorik: Inhaltstektonik & Stilmittel

Wulffs Redenschreiber hat  gleich zu Beginn (0:26, 0:33) durch eine klare Wiederholung (repetitio) die gewünschte Kernbotschaft „Zusammenhalt, Verständigung, miteinander auskommen“ für alle merklich und nachdrücklich platziert. Dass diese Trias die wichtigste Message des Bundespräsidenten ist, zeigt sich dadurch, dass er bei der Erhöhung der Abstraktion von der deutschen Gesellschaft auf transnationale Ebene exakt die gleiche Formulierung noch einmal wiederholt (3:09 – 3:11).  Passend zum gewünschten Image des Bundespräsidenten als  „Mensch wie du und ich“, hebt er die Begriffe „Mensch“ & „Menschlichkeit“ als weitere Botschaften anaphorisch stark hervor – wohl wissend, dass Inhalte niemals bezuglos vom Sprecher wahrzunehmen sind. In der Zeitspanne von 1:21 – 1:36 greift er nicht nur ein weiteres Mal zum Stilmittel der repetitio („dafür braucht es Menschen…“, „dafür braucht es Menschen wie Sie.“ – weiteres Stilmittel Einschmeicheln/Captatio benevolentiae), sondern redet fast schon derart inflationär vom „Menschen“, dass es auch bei dem Deutschen mit der intellektuell beschränktesten Reichweite geschnackelt habe muss. Doch was versteht er unter „Menschen“? Welchen Bezug kann sein Hörer dazu aufbauen? Er versucht zwar die Abstraktionsebene zu senken und durch vermeintlich konkretere Beispiele das Überzeugungsmoment (persuasiver Faktor) zu erhöhen, doch ist auch der „Chor“, der „Verein“ oder das „Aufpassen auf die Kinder des Nachbarn“ nichts, was wirklich konkrete und überzeugend-emotionale Bezüge auf Deutschlands Sofas wecken wird. Sicher, Wulff spricht zu einem extrem unterschiedlichen Publikum und hat hierdurch eine sehr schwere Aufgabe zu lösen. Er verwendet jedoch aufgrund des falschen Ehrgeizes es allen Recht machen und jeden immer anzusprechen zu wollen, („Lebt von denen, die sich für andere einsetzen“ – wem, wann, wo?/ „aus unterschiedlichen Gründen wie Motiven“ – welchen?)  einen zu großen Teil seiner Redezeit auf Allgemeinplätze, auf Abstrakte und abstrahierte Begriffe. Sein Publikum kann hierzu nur schwer einen emotional-persönlichen Bezug herstellen, das jedoch wäre elementar für die Verankerung seiner Botschaften und eine wirkungsvolle Rhetorik. Diesbezüglich hat Köhler 2009 als Rhetor besser agiert, als er den Mut bewies konkrete, den Bürger bewegende Ereignisse (Amok-Lauf von Winnenden, Fall Brunner) mit seinen allgemeinen Botschaften zu verknüpfen.

Wulffs Ansprache lebt von Thesen und sehr allgemeinen Beispielen, es kommt keine Argumentation im eigentlichen Sinne der Rhetorik vor. Dies ist sicherlich nicht Wulff anzulasten, sondern erstens der richtigen Einschätzung seines Redenschreibers geschuldet, dass in 5 Minuten keine großen Argumentationsschemata zu entwickeln sind. Zweitens dies nicht der geforderten Redegattung angemessen wäre und drittens beim Großteil der Zuhörer  wohl die gewünschte Verarbeitungstiefe sowieso nicht erreicht. Um zu überzeugen braucht Wulff jedoch zumindest argumentative Hilfsmittel wie Beispiele, Autoritätsverweise, mentale Bilder etc. – eigentlich sehr leicht zu integrieren, nur macht der Bundespräsident hieraus zu wenig. Eine Art Nutzenformulierung blitzt bei 2:22 mit „ehrenamtliche leben länger…“ auf, jedoch weiß man  – v.a. durch die Art des Vortragens – nicht, ob er dies nun als wirkliches Argument oder als halbseidenen Spaß am Rande meint. Neben weiteren Anaphern formuliert Wulff  mit „Für unsere Stadt, für unser Land, für unsere Demokratie“ eine Klimax (stufenartige Steigerung) und verleiht somit seinen Worten gekonnt Nachdruck (Emphasis). Auf gleiche Weise positioniert er seine dritte Kernbotschaft „Respekt & Anerkennung“ (2:44 – 3:01: „Respekt vor Kindern“, „Anerkennung von Mutter & Vater“, „Respekt und Anerkennung vor der Lebensleistung der Älteren“). Auch an dieser Stelle zeigt sich eindeutig die Bemühung Wulffs jeden potentiellen Zuschauer anzusprechen. Mit dem Schlusszitat „Friede auf Erden“ versucht er rhetorische geschickt den christlichen Hintergrund des Redeanlasses zu berücksichtigen und gleichzeitig hierauf seine gesellschaftlichen wie politischen Inhalte zu kristallisieren. Aus der Perspektive der Rhetorik zahlt der für einen Bundespräsidenten ungewöhnliche Schluss mit der Formulierung „…das wünschen sich meine Kinder im Übrigen auch“ erneut ganz strategisch auf das unterschwellig stets mitschwingende Ziel der Image-Positionierung ein.

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3. Rhetorisches Setting

Der neue Bundespräsident Christian Wulff möchte sich und sein Bild in der Bevölkerung nochmals deutlich  verschieden im Vergleich zu seinen Vorgängern positionieren – d.h. noch volksnäher, moderner, nah- und greifbarer. Dies sieht man bereits daran, dass er statt Schreibtisch und Arbeitszimmer einen großen, offenen Raum wählt. Nicht nur der Weihnachtsbaum ist moderner und durch die gebastelten Sterne der Kinder individualisierter als das Köhler’sche Gewächs 2009. Auch versammelt er erstmals die „Deutschen“ (wie er sie im Ideal sieht) um sich und bildet ganz bewusst die Schlüsselbegriffe seiner Rede wie „Respekt, Toleranz, Kinder, Eltern, Ältere, Religion, …“ in der Heterogenität seiner geladenen Gäste ab. Kinder sitzen vor ihm, es werden stets passend zu Wulffs Worten Nonnen, asiatische oder afrikanische Menschen, Soldaten, Pfadfinder, ein Angehöriger des jüdischen Glaubens oder seine Frau eingeblendet. Um die Wirkungsmacht der  Ansprache, der Botschaften wie Wulffs Gesamtimage zu intensivieren wird eine Totale gezeigt, welche den Bundespräsidenten auch bildrhetorisch ganz klar als Teil des Ganzen (pars pro toto) in den Köpfen seines Auditoriums positionieren soll.

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Fazit:

Wulff legt, natürlich Kraft seines Amtes und der damit verbundenen Übung, einen rhetorisch überdurchschnittlichen Auftritt hin – vor allem unter den Gesichtspunktes der Anspannung, der Zeit sowie der extrem heterogenen Zusammensetzung des Publikums. Doch das ist auch von einem Mann in seiner Position  und nach der Anzahl seiner Rhetorik-Trainings und Berater zu erwarten.

Was Wulff darüber hinaus jedoch aus rhetorischer Perspektive ebenso wenig schafft wie sein Vorgänger, ist die vollständige Überwindung des stets salienten Unterschieds und der Distanz  zum „Volk“. Neben der Platzierung seiner Kernbotschaften zielte Wulffs rhetorische Strategie klar auf die Loslösung seiner Person von gesellschaftlichem Status und auf die Rekategorisierung seiner Person als „normalen Bürger“ ab.

Die Rhetorik formuliert als eines der obersten Prinzipien die dissimulatio artis, das Verhüllen der Kunst. Gerade in Sekunden der sichtlich eingeübten Gestik, der überbordenden Wiederholungen, durch zu wenig das Volk wirklich bewegende Beispiele sowie fehlende empathische Mimik und Stimmführung wird Wulffs rhetorische Strategie zu offensichtlich und er verschenkt entscheidendes Potential. Wulff, ja das ganze Setting, wirkt einfach zu konstruiert und gerade in seiner maßgeschneiderten Passgenauigkeit nicht wie aus dem Leben Lieschen Müllers sondern wie aus dem Büro einer PR-Beratung. Wulff bleibt als Mensch an den entscheidenden Stellen noch zu blass, zu monoton. Die Konstruktion verrät sich zu deutlich zu Lasten seiner Authentizität, als dass man ihm wirklich abnehmen würde, er sei einfach nur der deutsche Durchschnitts-Christian von nebenan, mit all seinen Freuden und Sorgen, der nun halt irgendwie Bundespräsident geworden ist.